Stell dir vor, es gäbe eine App, in der wildfremde Menschen anonym über dich urteilen. Nicht über dein Restaurant. Nicht über deinen Kundenservice. Sondern über dich als Mensch. Genauer: als Mann.
Dein Name, dein Gesicht – garniert mit Warnungen, Emojis und subjektiven Einschätzungen. Willkommen bei Tea.
„Protect women. Expose bad behavior.“
Klingt wie ein feministisches Kickstarter-Motto. Ist aber das Mission Statement einer der aktuell meistgeladenen Apps in den USA.
Nur: Was wie ein Schutzraum wirkt, ist in Wahrheit ein Tribunal. Und das ganz ohne Verteidigung.
Was ist Tea?
Tea nennt sich selbst eine „private, verifizierte Community von Frauen“, in der sich Nutzerinnen anonym über Männer austauschen können – ob Tinder-Date, Ex-Freund, One-Night-Stand oder situationship. Wer einen Namen, ein Bild und ein Alter hat, kann gelistet werden.
Der Mann erfährt davon nichts.
Er hat kein Profil, kein Einspruchsrecht, keine Möglichkeit, Falschbehauptungen zu korrigieren oder überhaupt zu sehen.
Die anonyme Crowd entscheidet, ob er eine „Red Flag“ bekommt – für Untreue, emotionale Unreife oder einfach, weil er geghostet hat.
Was als „Sicherheitstool“ verkauft wird, ist in Wahrheit ein asymmetrisches Machtinstrument – für jeden Frust, jedes verletzte Ego, jede enttäuschte Erwartung.
Psychologie der Angst – und das Geschäftsmodell Rache
Neulich las ich einen Thread.
Eine Frau beschreibt, wie sie mit ihrem Freund in seiner Wohnung Schluss gemacht hat – und wie gefährlich das doch sei. Femizid und so.
Was sie weglässt: Das statistische Tötungsrisiko einer Frau in einer Beziehung liegt bei etwa bei 1 nach 17.300 Beziehungen.
Aber darum geht es längst nicht mehr.
Das ist die Psychologie, in der Apps wie Tea agieren: Nicht auf Basis von Realität, sondern auf Basis gefühlter Bedrohung.
Tea braucht keinen Beweis. Keine Relativierung. Nur einen Anlass. Und die sind vielfältig:
Einer, der einfach nicht wollte.
Eine Trennung, bei der sie nicht das letzte Wort hatte
Ein verkorkstes erstes oder zweites Date
Ein Mann, der „nicht klar kommuniziert hat“
Tea ist das ultimative Rache-Tool.
Elegant verpackt als digitale Sisterhood.
Einmal rot markiert, und du bist verbrannt. Nicht wegen Taten – sondern wegen Erfahrungen. Oder Meinungen. Oder Frustration.
Crowdsourcing mit Pranger-Logik
Natürlich – niemand will, dass Frauen schlechte Erfahrungen machen.
Und ja, toxisches Verhalten gibt es. Aber Tea ersetzt nicht Polizei oder Justiz.
Tea ersetzt Gewissheit durch Verdacht.
Erfahrung durch Bewertung.
Beziehung durch Akte.
Die App wirkt wie ein digitaler Gerichtssaal – nur ohne Richter, ohne Verteidigung, ohne Beweise.
Nur die Anklage. Und die Crowd.
Moderiert wird durch ein „SafeSip Team“.
Klingt nach Nachhaltigkeit, wirkt aber wie PR-Kosmetik. Denn auf Plattformen wie Reddit und X kursieren längst Screenshots mit vollen Namen, Wohnorten, Jobtiteln. Einmal im System, kein Zurück.
Die moralische Rating-Ökonomie
Was Tea verkauft, ist Kontrolle – nicht Schutz. Ein Sicherheitsgefühl, das auf Ausgrenzung basiert.
Und ein Wertesystem, das jede Frau anonym zur Richterin macht und jeden Mann zum potenziellen Täter – ganz gleich, ob er etwas getan hat.
Das Motto:
„Wenn du nichts zu verbergen hast, musst du ja keine Angst haben.“
Wer so denkt, glaubt auch, dass man seine Privatsphäre nur braucht, wenn man etwas Illegales plant. Willkommen in der feministischen Version der Vorratsdatenspeicherung.
Kalkulierte Unsicherheit = profitabler Markt
Tea ist kein soziales Projekt. Es ist ein Produkt. Mit Investoren. Monetarisierung. Premium-Zugängen.
Für 15 Dollar im Monat gibt’s:
- Zugriff auf Hintergrundchecks
- Bilder-Rückwärtssuche
- Datenbankabgleich mit Sex-Offender-Listen
- Matching-Kontrolle mit potenziell „gefährlichen“ Männern
Angst verkauft sich.
Und Unsicherheit ist skalierbar.
Was man früher „Rufmord“ nannte, heißt jetzt „empowernde Information“.
Was früher „Stalking“ war, heißt heute „Recherche“.
Was früher „Verletzung der Privatsphäre“ war, nennt sich jetzt „digitale Selbstverteidigung“.
Schluss mit Kuschelsprache – nennen wir es, was es ist
Tea ist kein „Empowerment“. Es ist ein Racheportal mit UX-Optimierung. Eine App, die weibliche Verletzung in moralische Überlegenheit umwandelt. Ein Tool, das nicht schützt, sondern spaltet. Eine digitale Soziale-Vernichtungs Waffe.
Verpackt im ekelhaften Zuckerguss von Sisterhood, Selbstschutz und Care-Arbeit.
Und es zeigt: Wir leben in einer Zeit, in der Kontrolle als Intuition verkauft wird. In der jedes Gefühl sofortige moralische Gültigkeit beansprucht. In der eine Enttäuschung reicht, um jemandem sozial den Boden wegzuziehen – mit einem Wisch auf dem Display.
Das ist nicht Fortschritt. Das ist digitalisierte Selbstgerechtigkeit. Ein Pranger für die Touchscreen-Generation.
Und am Ende bleibt eine Frage, die keine App beantworten kann: Wie viel Misstrauen hält eine Gesellschaft eigentlich aus, bevor sie kollabiert?
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