Die berühmteste Frage der libertären Literaturgeschichte steht wie ein Mantra am Anfang von Ayn Rands Opus Atlas Shrugged. Sie ist das Glaubensbekenntnis all jener, die glauben, Leistungsträger seien Halbgötter und Empathie ein Fehler im System.
„Who is John Galt?“
In Rands Roman Atlas Shrugged verlässt John Galt die Welt der Menschen, weil sie ihn – den genialen Ingenieur, den Denker, den Erlöser – nicht verdient hat. Stattdessen gründet er eine Parallelgesellschaft der Auserwählten. Eine Insel der Individualisten, wo niemand jemandem etwas schuldet. Kein Mitgefühl, keine Solidarität, keine Kompromisse. Nur Leistung. Nur Ratio. Nur Ich. John Galt ist der libertäre Endgegner: emotionslos, unfehlbar, allwissend. Er argumentiert nicht, er deklariert. Er sabotiert ein ganzes Land, indem er die „Schaffenden“ davon überzeugt, sich zurückzuziehen. So lange, bis die Welt zusammenbricht und sie auf den Knien um ihre Rückkehr bettelt.
Die Figur John Galt ist ein rachsüchtiger Gott. Ein Avatar des libertären Narzissmus. Er steht für die Überzeugung, dass Moral nur stört, wenn man wirklich genial ist. Dass man Teil eines Größeren ist: für ihn ein lächerlicher Gedanke.
60 Seiten lang erklärt Galt in einem Monolog die Weltformel des libertären Selbstbetrugs: „Ich schulde niemandem etwas, weil ich selbst etwas bin.“ Und damit wären wir bei der Erfinderin dieses Gedankenguts.
Wer war Ann O’Connor?
Geboren 1905 in Russland als Alissa Sinowjewna Rosenbaum, erlebte sie als Jugendliche die Oktoberrevolution. Aus dieser politischen Erschütterung entstand ihre lebenslange Aversion gegen Kollektivismus – was ja noch nachvollziehbar wäre, wenn sie daraus nicht eine narzisstische Ersatzreligion gebaut hätte.
In den USA gab sie sich einen neuen Namen: Ayn Rand. Das war die Marke.
Privat unterschrieb sie als Ann O’Connor – der Nachname ihres Ehemannes, den sie vor allem geheiratet hatte, um ein Visum zu bekommen.
Die Frau, die den USA ein Weltbild verkaufte, in dem Abhängigkeit Schwäche ist, hat ihr ganzes Leben in Abhängigkeiten verbracht. Sie brauchte Ehemann, Mentoren, Gönner, Applaus. Sie predigte Selbstgenügsamkeit, während sie inmitten eines ideologischen Hofstaats residierte, der nur dazu da war, ihr recht zu geben. Aber der größte Widerspruch kam zum Schluss.
Lungenkrebs und die bittere Pointe
Rand rauchte wie eine Dampflok – Teil ihres Images als abgeklärte Intellektuelle.
1974 bekam sie Lungenkrebs. Sie nahm staatliche Hilfe in Anspruch.
Medicare. Sozialhilfe.
Ein öffentlich finanziertes System, das sie Jahrzehnte lang verachtet, bekämpft, verhöhnt hatte.
Sie nutzte es unter dem Namen „Ann O’Connor“ – um die Marke Ayn Rand nicht zu beschmutzen.
Sie, die gegen jeden Cent Umverteilung war. Sie, die Nächstenliebe für moralisches Gift hielt. Sie, die den Staat nur als Parasiten sah – ließ sich vom „Parasitensystem“ ihre medizinische Versorgung bezahlen.
Weil Ideologie billig ist. Krebs aber teuer.
Was Rand mit Atlas Shrugged erschaffen hat, ist kein Ideal. Es ist ein Symptom. Eine Überkompensation. Eine kindische Rache an einer Welt, die sie als Bedrohung erlebt hat. John Galt ist nicht die Antwort auf Tyrannei. Er ist ihre Spiegelung – nur mit Anzug statt Uniform. Der CEO als Gottersatz.
Und die Frage „Wer ist John Galt?“ ist nichts weiter als ein Türöffner in eine Gedankenwelt, in der Mitgefühl ein Defekt, Zusammenarbeit Schwäche und das Ich das einzige Gesetz ist. Willkommen in der Welt von Peter Thiel, Elon Musk, Donald Trump und all den anderen, die es ihnen gleichtun und sich an ihnen orientieren.
In einer US-Umfrage der Library of Congress wurde Atlas Shrugged nach der Bibel als das Buch mit dem größten Einfluss auf das Leben der Leser*innen genannt. Seit Erscheinen 1957 wurden über 9 Millionen Exemplare verkauft. Atlas Shrugged ist kein literarisches Meisterwerk, sondern eine Manifest für Egoisten – und eine der wirkmächtigsten politischen Fiktionen des 20. Jahrhunderts. Aus diversen Gründen schwer erträglich zu lesen, aber wichtig, um die USA und ihren Hang zum Libertarimus zu verstehen.
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